Nicole Maunoir 17. Mai 1925 – 15. März 2014
Auszüge aus der Würdigung von Eliane Stallybrass an der Feier vom 20. März 2014 in der Kirche von Chêne-Bougeries
Seit einigen Jahren gibt es im Büro von Initiativen der Veränderung (IdV) regelmässige gemeinsame Mittagessen. Zusätzlich zu allen, die im Büro arbeiten, nehmen jeweils verschiedene Freunde daran teil, um auf dem Laufenden zu bleiben, was im Büro geschieht. Nicole war sehr oft dabei, bis sie vor einigen Monaten ins Spital eintreten musste. Sie kam trotz ihres Asthmas und den Medikamenten, die ihr den Geschmacksinn geraubt hatten. Denn für sie war der Gedankenaustausch wichtiger als das Essen. Alle Teilnehmenden schätzten Nicole. Jemand erwähnte ihr friedliches Lächeln.
Eine ehemalige Sekretärin schrieb: „Ich fühlte ihr gegenüber eine besondere Zuneigung.“ Nicole interessierte sich für alle in der Tafelrunde und verfolgte mit Interesse, was die jungen Leute erzählten, wobei sie sich die neusten Errungenschaften von Facebook und Twitter erklären liess. Aber die Modernität war ihr nicht unbekannt. Nach dem Tod ihres Mannes François hielt sie dank E-Mail den Kontakt mit der ganzen Welt aufrecht. Dies führte dazu, dass sie mit 77 Jahren selber lernte, einen Computer zu bedienen, um mit ihren zahlreichen jungen und älteren Freunden in Lateinamerika und der restlichen Welt in Verbindung zu bleiben.
Aber schauen wir weiter in die Vergangenheit zurück: Nicole wurde im Elsass, in Mulhouse geboren, was bezeichnend ist für ihre Lebensgeschichte. Ihr Bruder Michel erzählte mir heute morgen per Telefon viel über ihre Familie. Hier folgt ein kleiner Ausschnitt:
Im Jahr 1939, während der Kriegserklärung, waren die Kinder Koechlin in Veytaux, in der Nähe von Montreux, wo sie wie üblich ihre Ferien bei ihren Grosseltern verbrachten. Dies bedeutete, dass sie jahrelang ganz nahe von Caux weilten, ohne zu wissen, welche Rolle dieser Ort in ihrem Leben spielen würde. Ihr Vater entschied damals, dass sie nicht nach Mulhouse zurückkehren sollten, weil die Stadt zu nahe an der französisch-deutschen Grenze lag. Dies führte dazu, dass die Kinder zuerst in Annecy, dann in Mulhouse und nachher in Biarritz und schliesslich im deutsch gewordenen Mulhouse wohnten. Die Familie wurde von dort vertrieben und lebte danach bis ans Kriegsende in verschiedenen Städten Frankreichs.
Als sie nach Mulhouse zurückkehrten entdeckten sie, dass sich keine Möbel mehr ihrem Haus befanden. Aber der Grossvater von Nicole, der dort geblieben war, hatte von diesem „Verkauf“ Wind bekommen und hatte alle Möbel gekauft. Nicole und ihre Familie fanden all ihre Sachen wieder, nur die französischen Bücher, die verbrannt worden waren, fehlten.
Bereits im Jahr 1934 hatte Nicoles Mutter von der Oxford Gruppe, der Vorläuferin von der Moralischen Aufrüstung (MRA), gehört. Sie war von der Veränderung einer ihrer besten Freundinnen sehr beeindruckt. Deshalb nahm sie noch im selben Jahr an einer House Party in Thun teil, und seither wurde die Familie Koechlin von diesen Ideen beeinflusst. So wurden die Entscheidungen über Wohnungswechsel während der Kriegsjahre gemeinsam in der Stille und im Gebet getroffen.
Schon vor dem Krieg machten die Kinder bei Versammlungen mit und waren 1946 in Caux anwesend, als das Caux-Palace geöffnet wurde. Sie nahmen intensiv an der Versöhnungsarbeit zwischen Frankreich und Deutschland teil, trotz, oder vielleicht gerade wegen ihrer Erfahrungen während des Krieges.
Nicole entschied sich für eine Ausbildung im Fach Theologie für Frauen an der Universität von Genf. Sie behielt ihren Kontakt mit der MRA und die jungen Leute versammelten sich bei der Familie Maunoir, deren Sohn später ihr Mann wurde. François setzte sich schon damals an der Seite von Daniel Mottu leidenschaftlich für Versöhnung und Veränderung in Lateinamerika ein.
Als Nicole ihn heiratete, wusste sie, dass sie sich auch mit diesem Kontinenten verband. 1958 landete das frisch verheiratete Paar in Buenos Aires. Die lateinamerikanischen Freunde sprechen noch heute mit viel Liebe und Respekt von den beiden. Ein politischer Flüchtling von Guatemala erinnert sich daran, wie Maunoirs den Leuten in seinem Land geholfen haben, mitten im bewaffneten Konflikt einen Weg zur Versöhnung zu finden.
Elsa Vogel, eine gute französisch-englische Freundin von Maunoirs, die auch jahrelang mit ihrem Mann in Lateinamerika gelebt hatte, berichtet, dass sie immer von Nicoles unerschütterlichem Glauben beeindruckt war: „Das war das Fundament, auf dem ihr Leben begründet war. Sie und François haben sich während mindestens 20 Jahren mit Leib und Seele in Lateinamerika eingesetzt, besonders in Uruguay, Argentinien und Brasilien, wo sie die Hafenarbeiter in Rio de Janeiro inspiriert und begleitet haben; so wie sie auch während langer Zeit den Anführern der Favelas und ihren Familien ihre Überzeugung mitteilten: Eine tiefe persönliche Änderung ist die Basis für alle sozialen Veränderungen. Aber auch mit Industriellen, Politikern und Grossgrundbesitzern arbeiteten sie eng zusammen.“
Währen all diesen Jahren haben sie auch mehrere junge Europäer und Asiaten mit ihrer Freundschaft begleitet, welche die Ideen der MRA selber anwenden lernen wollten. Eine davon, eine Malteserin, erinnert sich: „Sie haben nie gepredigt sondern haben uns von gleich zu gleich behandelt.“
Als sich François und Nicole in Genf niederliessen, hörten diese Kontakte nicht auf. Sie trafen die Delegierten der Länder, die sie kannten, an verschiedenen internationalen Konferenzen, luden sie zu sich nach Hause ein oder nahmen sie mit nach Caux. Natürlicherweise gab es im Laufe der Jahre immer weniger davon, aber Nicole blieb ihren Freunden bis am Schluss treu. Sie telefonierte dem einen oder anderen regelmässig. Nicole hatte in der MRA/IdV eine Art und Weise gefunden, ihren Glauben zu leben. Die Zeit der Stille am frühen Morgen war für sie keine Pflicht sondern eine Quelle der Inspiration. Manchmal, wenn man von dem einen oder anderen Thema sprach, hatte Nicole folgenden Kommentar: „Ah, ich freue mich sehr, morgen in der Stille über dieses Thema nachzudenken, um es besser zu verstehen.”
Nicole war die Älteste in der Familie. Ihr Bruder sagte mir, dass sie eine natürliche Autorität besass. Sie blieb wohl ihr ganzes Leben eine grosse Schwester, die über ihre Nächsten wacht, die möchte, dass alles gut geht, dass die Probleme gelöst werden. Vielleicht manchmal ein wenig zu viel? Aber in meiner Erinnerung bleibt sie eine warmherzige Person, mit der man über Tennis sprechen konnte und die sich für meine Tätigkeiten interessierte und zuhören konnte. Manchmal fand sie es schwierig, dass das, wofür sie ihr ganzes Leben eingesetzt hatte, nicht immer verstanden und nicht von jedermann angenommen wurde. Aber sie konnte loslassen. Sie hatte Vertrauen, dass das alles nicht in ihrer Hand lag. Und sie interessierte sich weiterhin für die Leute und schenkte ihnen ihre Liebe.
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